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Energie und Umwelt - Klimapolitik – Die Zeit drängt

Bundesrat will Strahlenrisiko um Faktor 100 erhöhen

Die Strahlenschutzbestimmungen beim AKW Beznau stehen derzeit auf dem gerichtlichen Prüfstand. Erhalten die Beschwerdeführenden Recht, müsste das AKW vom Netz. Nun will der Bundesrat noch vor dem Gerichtsurteil die Strahlenschutzbestimmungen anpassen. – Ein Skandal in zwei Akten.

Von Valentin Schmidt*

«Für uns ist die Sicherheit massgebend», sagte Doris Leuthard 2016 im Nationalrat. Die Bundesrätin machte sich damals stark dafür, dass die AKW am Netz bleiben dürfen, solange sie die Sicherheitsvorgaben erfüllen. Mit diesem Argument sollten festgelegte Ausserbetriebnahmedaten abgewendet werden, wie sie die Atomausstiegsinitiative forderte. Mit Erfolg: Die Initiative scheiterte mit 46 % Ja-Stimmen an der Urne. Der Atomausstieg wurde dann im Mai 2017 mit der Annahme des neuen Energiegesetzes eingeläutet. Damit ist erstmals ein Neubauverbot für Atomkraftwerke im Gesetz verankert. Für die bestehenden AKW gilt bis zu ihrer Ausserbetriebnahme weiterhin das Prinzip «betreiben, solange sicher».

Knapp ein Jahr später scheinen Leuthards Worte bereits Makulatur zu werden. Am 10. Januar 2018 hat der Bundesrat eine Vernehmlassung zu einer Verordnungsrevision eröffnet, die für die nukleare Sicherheit massgebend ist. Damit sollen die Strahlenschutzbestimmungen aufgeweicht werden. Gleichzeitig unterläuft diese Verordnungsrevision ein laufendes Gerichtsverfahren, in dem eben diese Strahlenschutzbestimmungen auf dem Prüfstand stehen.

Skandal, 1. Akt – «Beznau Verfahren»

Nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 ordnete das ENSI eine Prüfung aller Atomkraftwerke hinsichtlich Erdbebensicherheit an. Dabei zeigte sich: Manche Anlageteile des AKW Beznau würden versagen und hohe Mengen Radioaktivität freisetzen. Obwohl die gesetzlichen Strahlenschutzbestimmungen in diesem Fall eine vorläufige Ausserbetriebnahme und Nachrüstungen vorsehen, lässt die Atomaufsichtsbehörde ENSI den Weiterbetrieb von Beznau zu. Unterstützt von Greenpeace Schweiz, dem Trinationalen Atomschutzverband TRAS und der SES leiteten AnwohnerInnen von Beznau 2015 rechtliche Schritte ein. Ihr Standpunkt: Das ENSI wendet die Strahlenschutzbestimmungen falsch an. Die Beschwerdeführenden verlangen, dass das ENSI seinen Entscheid als widerrechtlich korrigiert. Das würde zur zumindest vorläufigen Abschaltung von Beznau führen.

Zurzeit ist das Beznau Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht hängig. Treten die Verordnungen wie vom Bundesrat vorgeschlagen in Kraft, dürfte das AKW am Netz bleiben, egal wie das Gerichtsverfahren ausgeht. Das ist ein Skandal und stösst Nils Epprecht, Projektleiter Strom & Atom bei der SES, sauer auf: «Der Bundesrat übernimmt einfach den Standpunkt des ENSI und der Betreiberin Axpo. Doch diese sind im Verfahren Partei. In einem Rechtsstaat soll das Gericht und nicht der Bundesrat beurteilen, ob das Gesetz gemäss seinem Sinn und Zweck angewendet wurde.»

Skandal, 2. Akt – Die Lex Beznau

Die zu Jahresbeginn 2018 vom Bundesrat eröffnete Verordnungsrevision ist aus Sicht der Beschwerdeführenden irreführend aufgezogen. Während die Behörden behaupten, mit der Revision werde einfach der Wortlaut einer Bestimmung in seinen «beabsichtigen Sinn» gebracht, sieht Martin Pestalozzi, Kernenergierechtsexperte und Anwalt der Beschwerdeführenden, darin eine «massive Abschwächung der heutigen Sicherheitsvorschriften». Denn bis anhin müssen die AKW-Betreiber nachweisen, dass ihre Anlage bei einem schweren Erdbeben, wie es maximal alle 10'000 Jahre erwartet wird, robust genug ist, um die Bestrahlung der Bevölkerung auf höchstens 1 Millisievert zu begrenzen. Können sie das nicht, müssen sie ihre Anlage vorläufig abschalten und nachrüsten.

Befreit von Steuern und Abgaben

Dem wollen das ENSI und der Bundesrat nun durch die Hintertüre vorbeugen: Mit neuem Wortlaut in der Verordnung soll die erlaubte Strahlendosis um den Faktor 100! auf 100 Millisievert erhöht werden. Der Atom-Experte Markus Kühni, der für das Verfahren beigezogen wurde, gibt zu bedenken: «Sicherheitstechnisch würden wir in die 1960er-Jahren zurückgeworfen. Selbst bei festgestellten Defiziten wie in Fukushima würde fortan die Rechtsgrundlage fehlen, ein AKW ausser Betrieb zu nehmen.»

Damit nicht genug: Auch für viel häufigere Erdbeben, wie sie alle 10 Jahre zu erwarten sind, soll neuerdings erst ab einer Dosis von 100 Millisievert pro Jahr der Betrieb eingestellt werden. Zur Einordnung: In den immer noch evakuierten Ortschaften um Fukushima wurde die Belastung für das erste Jahr auf zirka 30 Millisievert geschätzt. Das ist «lediglich» ein Drittel der mit der geplanten Revision zulässigen Dosis. Der aktuelle Grenzwert von 1 Millisievert ist keine Anforderung jenseits des Möglichen, hat doch der andere Druckwasserreaktor in Gösgen beim Erdbebennachweis diese Limite klar eingehalten. Vor diesem Hintergrund verkommt die Verordnungsanpassung zu einer «Lex Beznau». Der Bundesrat lässt sich als Wasserträger für das ENSI einspannen, das im vorliegenden Fall offenbar die Interessen der AKW-Betreiberin Axpo vertritt.

Die Forderungen von Greenpeace, SES und TRAS sind klar: Der Bundesrat muss auf die Verordnungsrevisionen verzichten oder zumindest den Gerichtsentscheid abwarten. Die Sicherheitsvorschriften für AKW dürfen keinesfalls abgeschwächt werden. Denn für die Bevölkerung ist die Sicherheit massgebend.

100 Millisievert sind klar zu viel

Gemäss Erläuterungen von Dr. André Herrmann, dem ehemaligen Präsidenten der eidgenössischen Kommission für Strahlenschutz (2005–2012), darf eine Strahlendosis von 100 mSv während einem Jahr nicht bagatellisiert werden. Die natürliche Strahlendosis liegt bei rund 3 mSv pro Jahr (Medianwert). Ansonsten werden Strahlendosen im mSv-Bereich nur für beruflich exponierte Personen (20 mSv pro Jahr) und in der Medizin (10 mSv) in Kauf genommen.

Mit der Festlegung eines Dosisgrenzwerts von 100 mSv als potenzielle Exposition bei Störfällen besteht die Gefahr, dass die Bevölkerung in der Umgebung entsprechend verstrahlt wird. 5 ‰ der exponierten Personen (1000 bis 2000 Personen in weniger als 20 km rund um die AKW) müssen befürchten, dass sie Gesundheitsschäden erleiden bzw. vorzeitig sterben werden. Die Lebensqualität der betroffenen Bevölkerung wird massiv beeinträchtigt, insbesondere diejenige von Familien mit Kleinkindern oder diejenige von schwangeren Frauen (Fehlbildung ab 50 mSv in den ersten Wochen der Schwangerschaft).

*Der Autor

Marcel Hänggi

Valentin Schmidt

Mediensoziologe. Leitete von 2015 bis 2022 die Kommunikation der Schweizerischen Energie-Stiftung SES.

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