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Energie und Umwelt - Aktenzeichen AKW ungelöst

Auf Um- und Irrwegen zum Atommüll-Endlager

Die Rahmenbewilligung – ein Begriff mit der Strahlkraft des Heiligen Grals, zumindest für die Nagra. Damit wäre der Standort des Endlagers endlich nuklearrechtlich festgelegt. Doch schon bisher waren die Wege und Umwege weit und holprig. Und ein viel längerer Marsch steht noch bevor – Stolpersteine inklusive.

Von André Lambert*

Keine Frage: Die radioaktiven Abfälle sind gesetzeskonform zu entsorgen. Der Nagra obliegt diese Aufgabe, seit vier Jahrzehnten, leider mit herben Rückschlägen, und oft infolge Unterschätzung der technischen und gesellschaftlichen Komplexität. Als verlässliche Konstante erweist sich die stetige Wanderschaft der Endlager-Termine. Jüngstes Beispiel: Im Jahr 2008 war die Rahmenbewilligung auf 2018 terminiert. Im Entsorgungsprogramm 2016 sieht sich dieser «Meilenstein» ins Jahr 2031 teleportiert.

Nach nur acht Jahren deren dreizehn in Verzug. Gegenwart überholt Zukunft: Einsteins Relativität der Zeit im Praxistest? Fehleinschätzungen säumen den steinigen Weg zur nuklearen Entsorgung. Dennoch richten die Verantwortlichen ihren Tunnelblick unbeirrt durch rosarote Brillen in die Weiten der Endlagerzukunft. Und weiterhin lauert im Nagra-Entsorgungsprogramm 2016 erhebliches Verzögerungspotenzial.

Nagra-Zeitplan auf Kollisionskurs mit der Realität

In der abgebildeten Grafik sind die Hauptphasen des Projekts «Tiefenlager für hochradioaktive Abfälle» im Zeitablauf eingeordnet. Die blauen Balken entsprechen der Nagra-Planung, einem wie gewohnt klinisch reibungsfreien Szenario ohne jeden Verzug, weder institutionell, geotechnisch noch gesellschaftspolitisch. Dieser wunschgeölten Dramaturgie wurden zwei realitätsbezogene Szenarien gegenübergestellt. Das eine Drehbuch («realistisch», rote Balken) berücksichtigt Erfahrungen aus früheren Projekten (realer Zeitbedarf und «Sand im Getriebe»).

Ein zweites Szenario («pessimistisch», schwarze Balken) unterstellt ungünstige geologische Befunde der Erkundung Untertag, die zur Aufgabe des Standorts wegen sicherheitstechnischer Untauglichkeit führen. Kein realitätsferner Ansatz, wie die Geschichte zeigt: So musste die Nagra das von ihr in den 80er-Jahren lange als Endlagergestein bevorzugte Kristalline Grundgebirge nach einem Jahrzehnt millionenschwerer Erkundung wegen geologisch mehrfach evidenter Nichteignung aufgeben. Oder der Wellenberg (NW) für die schwach- und mittelaktiven Abfälle: Nach kostentreibender Exploration seines alpin-tektonisch durchgewalkten Mergelgesteins streiten sich die Experten über die «technische» Qualifikation als Endlagerstandort. Belanglos, denn seine gesellschaftspolitische Nicht-Eignung ist seit 2002 kantonal-demokratisch besiegelt. Zurück auf Feld eins.
Schwachstellen in der Planung

Rückt man die Phasen der aktuellen Endlager-Planung ins Blickfeld, zeigt sich der meist unterschätzte Zeitbedarf schon zu Beginn. Soll die Rahmenbewilligung bis 2031 vorliegen, müssen die Sondierbohrungen der SGT-Etappe 3 innert fünf Jahren bewilligt, synchron und pannenfrei realisiert, ausgewertet, unter Einbezug der 3D-seismischen Erkundung geowissenschaftlich interpretiert sowie öffentlich dokumentiert sein. Die Bohrgesuche sind indes erst eingereicht, Einsprachen harren ihrer Bearbeitung. Zudem bleibt jede Seismik-Interpretation so lange provisorisch, bis sie bohrlochseismisch kalibriert ist.

Der bis anhin auch in Nagra-PR-Broschüren prominent portierte Meilenstein «Provisorische Standortwahl» hinsichtlich des Rahmenbewilligungsgesuchs (RBG) ist aus den Ablaufplänen entschwunden, bis auf eine in der Textfülle des Entsorgungsprogramms verborgene Spur, versehen mit der Jahreszahl 2022. Mag man dereinst diese Standortfestlegung als noch so «provisorisch» anpreisen: Öffentlichkeit und Medien werden sie zweifelsfrei als vollendete Tatsache interpretieren. Sie werden sich für eine Begründung auch nicht mit dem erst Jahre später einzureichenden RBG der Nagra abspeisen lassen.

Die Sachplan-Leitung ist daher gut beraten, adäquaten Zeitraum für behördliche Stellungnahmen und öffentlichen Diskurs vorzusehen. Das anschliessende Verfahren von der Einreichung des RBG bis zur Rechtsgültigkeit führt über einen jahrelangen institutionellen Hürdenmarathon von der fachtechnischen Überprüfung zu Bundesrat und Parlament, gegebenenfalls zum Referendum. Für ein nukleares Endlager wird dies ein Novum sein, Verzögerungen im Verfahren sind daher vorzusehen.

Noch lange kein Endlagerbau?

Eine erteilte Rahmenbewilligung ist jedoch kein Freipass zum Endlagerbau. Erst nach weiteren Sondierbohrungen wird der Vortrieb der Schächte und Stollen zu verantworten sein. Denn solche untertägigen Zugänge sind bergmännisch herausfordernd, geotechnische Probleme mehr Regel denn Ausnahme. Und erst auf Lagertiefe starten dann die «Erdwissenschaftlichen Untersuchungen Untertag» (EUU). Dafür stand bisher der Begriff «Felslabor»: Warum ist auch er entschwunden? Es handelt sich um nichts weniger als die folgenschwerste Phase des gesamten Entsorgungsprojekts, den ultimativen Stresstest des Standorts als sicherer Hort für hochaktiven Atommüll über Jahrhunderttausende. Für diese Gewähr der Langzeitsicherheit unabdingbar sind auch überzeugende Demonstrationen der technisch einwandfreien Einlagerung von 25-Tonnen- Behältern per «remote handling» in akut letalem Strahlungsfeld, ebenso die qualitätsgesicherte Lagerstollen und Schachtversiegelung. Schliesslich ist für den Bedarfsfall das Beherrschen der ferngelenkten Behälter-Rückholung glaubwürdig zu demonstrieren.

Für alle diese komplexen Untertagebauten, Experimente und Validierungen, 600–900 Meter tief, mit heiklen geotechnisch-hydrogeologischen Abklärungen, in-situ-Experimenten, Langzeittests und technischen Demonstrationen plant die Nagra knapp zwei Jahrzehnte ein, Schacht- und Stollenbau inbegriffen. Ob das reichen wird? Zweifel sind begründet, denn nach zwei Jahrzehnten Forschung im Felslabor Mont Terri (JU) meint man dort – weniger als 300 m Untertag – den Berg allmählich, wenn auch erst ansatzweise zu verstehen.

Lagerbau und nukleare Betriebsbewilligung

Nicht weniger planungskühn gibt sich die Nagra hinsichtlich der nuklearen Baubewilligung. Nach vielleicht einem Jahrzehnt untertägiger Erkundung soll das Gesuch erarbeitet, innert drei Jahren behördlich geprüft und widerstandslos bewilligt werden. Ob die verantwortliche Fachbehörde für die Prüfung eines Vorhabens dieser technisch-gesellschaftlichen Tragweite der Zeitvorgabe des Projektanten folgen wird?

Dann erst beginnt der Lagerbau. Würde das angejahrte Lagerkonzept, quasi unter Denkmalschutz tatsächlich so weit mitgeschleppt, müssten kilometerlange, nur knapp drei Meter enge Lagerstollen vorgetrieben werden, je nach Standort bis zu 900 m tief in diffiziles Gebirge. Und erst nach Vorliegen der einsprachebereinigten Betriebsbewilligung könnten die ersten hochaktiven Chargen eingelagert werden. Gemäss Nagra-Wunschplanung im Jahr 2060. Nach unserer Einschätzung frühestens eine Generation danach.

Fazit: «Zeitgerecht» werde das Lager realisiert, so das Wording im Nagra-Leitbild. Ein semantischer PR-Trick, denn das konnotierte «rechtzeitig» wäre ja einem verbindlichen Terminplan verpflichtet. So aber hypnotisiert sich die Nagra über die prekäre Verlässlichkeit ihrer eigenen Planung hinweg.

 

*Der Autor

André Lambert

André Lambert

Der Geologe arbeitete von 1989 – 2012 als Ressort- und Projektleiter in verschiedenen Funktionen bei der Nagra. Er war u.a. als Leiter des Hauptprojekts Opalinuston massgeblich an der Ausarbeitung «Entsorgungsnachweis 2002» beteiligt. In diesem Artikel kommentiert er die SES-Analyse zum Nagra-Zeitplan aus dem persönlichen Blickwinkel seiner langjährigen Erfahrungen im Dienst der Nagra.

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