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Energie und Umwelt - Zerfall der Atomindustrie in Europa

«Jede Technologie kommt im Alter an ihre wirtschaftlichen Grenzen»

2019 haben erneuerbare Energien wie Wind und Sonne erstmals mehr Strom geliefert als die Atomkraft. Dies zeigt der World Nuclear Industry Status Report 2020. Im Interview analysiert Herausgeber Mycle Schneider grundlegende Probleme der Atomkraft im globalen Marktumfeld.

Interview von Valentin Schmidt

E&U: Der aktuelle «World Nuclear Industry Status Report» (WNISR 2020) widmet einen Schwerpunkt dem Einfluss von Corona auf die AKW-Sicherheit. Was sind die wesentlichen Erkenntnisse?

Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie sind beträchtlich. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde die Atomindustrie von einer globalen Pandemie betroffen, speziell die Bereiche Sicherheit und Sicherung – in der englischen Fachsprache «safety» und «security». Wenn Électricité de France (EDF), grösste AKW-Betreiberin der Welt, zwei Drittel ihrer Angestellten im Atombereich nach Hause schickt, dann hat dies Konsequenzen. Diese Leute sind ja aus gutem Grund im AKW vor Ort. Im Frühjahr entstanden Betriebssituationen, bei denen das Sicherheitsniveau gesunken ist. Viele Kontrollvorgänge wurden gar nicht oder nur ungenügend ausgeführt. So kam es im französischen AKW Belleville zu einem Unfall. Einer von drei Wasserstofftanks sollte ersetzt werden. Als die Angestellten eines Subunternehmens eintrafen, war kein Aufseher von EDF vor Ort. Die Monteure haben den falschen Tank von der Wand gerissen, den aktiven statt einen leeren, was zu einer Explosion und einem Brand führte und zwei Arbeiter verletzte.

In mehreren Ländern, darunter Kanada, Finnland, Frankreich und die USA, sind die Inspekteure der Atomaufsichtsbehörden komplett zu Hause geblieben. Gleichzeitig erklärten Behördenvertreter öffentlich, die Situation sei unter Kontrolle. Heute wissen wir: Die Aufsichtsbehörden hatten die nötigen Informationen hierfür schlicht nicht. Das war eigentlich der überraschendste und schockierendste Befund beim Erstellen des Reports: Der eklatante Mangel an statistischen Daten und öffentlich zugänglichen Informationen zu Auswirkungen der Corona-Pandemie im Atomsektor. Wie viele getestete, infizierte, geheilte Mitarbeiter? Wie viele sind gestorben? Welche Posten sind betroffen? Die Öffentlichkeit bleibt im Dunkeln. Zudem gibt es eine ganze Serie von weiteren Punkten, welche zur Erschwerung der Aktivitäten des Personals geführt hatte. So hat die Atomaufsichtsbehörde NRC in den USA 16-Stunden-Tage für das AKW-Personal genehmigt. Wöchentlich durfte bis zu 86 Stunden gearbeitet werden. Das fördert natürlich die Gefahr der Übermüdung in sicherheitsrelevanten Bereichen.

E&U: Aus dem WNISR 2020 geht hervor, dass viele Länder – auch die Schweiz – überalterte AKW betreiben. Oft wird argumentiert, die AKW müssen am Netz bleiben, um getätigte Investitionen zu amortisieren. Langzeitbetrieb und Laufzeitverlängerungen seien in diesem Sinn rentabel.

Die Kosten des Langzeitbetriebs sind heutzutage derart gestiegen, dass sie mit anderen Energieproduktionsformen auf dem Markt nicht mehr mithalten können. Das Beispiel Ohio zeigt, mit welchen Mitteln heute um den wirtschaftlichen Betrieb gekämpft wird. Dort gab ein AKW-Betreiber «erfolgreich» 60 Mio. Dollar für die Bestechung von Abgeordneten aus – einschliesslich des Parlamentspräsidenten – um einen Parlamentsentscheid zu Gunsten einer milliardenschweren Subvention zu erwirken und damit den Betrieb von vier unrentablen Atomkraftwerken sicherzustellen. Letztlich deckte das FBI die beispiellose Verschwörung auf. Das zeigt: Jede Technologie kommt im Alter an ihre wirtschaftlichen Grenzen. Ein altes Auto auf der Strasse zu halten, ist teurer als ein neues.

E&U: Der Report zeigt, dass 2019 die erneuerbaren Energien – ohne die Wasserkraft – weltweit erstmals die Atomkraft knapp überflügelt haben. Im globalen Strommix hatten die Erneuerbaren einen Anteil von 10,39 %, die Atomkraft 10,35 %. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück? Sind die Erneuerbaren inzwischen wirtschaftlicher als die Atomenergie?

Die Kostenschere für den Neubau von erneuerbaren und atomaren Kraftwerken hat sich in den letzten zehn Jahren immer weiter geöffnet. Die Stromgestehungskosten sind im Atombereich um zwei Drittel gestiegen, bei den Erneuerbaren massiv gesunken: um 70 % bei Wind, bis 90 % bei Solar. Die Durchschnittswerte für Strom aus neuen Wind- und Photovoltaik-Anlagen liegen heute weit unter 4 Eurocent pro Kilowattstunde (€ct/kWh), während sie bei der Atomkraft bei 14,5 €ct/ kWh liegen.

Noch dramatischer ist heute die Entwicklung bei den Speichertechnologien. Gemäss «Bloomberg New Energy Finance» sinken die Kosten hier noch schneller als bei der Photovoltaik. Der Strom aus neuen Photovoltaik-Kraftwerken ist in vielen Regionen der Welt nun für unter 2 €ct/kWh zu haben. Der Weltrekord liegt aktuell bei 1,1 €ct/kWh Solarstrom, aus einem kommerziellen Gewinner-Angebot einer Auktion im August 2020 in Portugal. Gekoppelt mit Speicherung kommen wir in die Grössenordnung der Durchschnittswerte der Betriebskosten bestehender AKW. Das ist ein «Game Changer»! Der Markt hat das begriffen. Es gibt schon lange keine Privatfinanzierung für Investitionen in neue Atomkraftwerke mehr. Deshalb werden heute neue Kapazitäten weltweit zu zwei Dritteln mit erneuerbaren Energien gebaut.

E&U: Von Atombefürwortern ist immer wieder zu hören, die Schweiz verbaue sich mit dem 2017 vom Stimmvolk bejahten Neubauverbot für Atomkraftwerke die Chance, mit CO2-armen Technologien wie etwa dem «Small Modular Reactor (SMR)» ihre Klimaziele zu erreichen. Wie sieht die Entwicklung bei den SMR aus?

Seit 2015 ist im WNISR alle zwei Jahre ein Kapitel dem «Small Modular Reactor» gewidmet – vorerst nur alle zwei Jahre, weil es eigentlich nicht viel Neues dazu zu sagen gab, ausser dass viel darüber geredet wird. SMR sind keine neue Erfindung. Der Begriff existiert seit Jahrzehnten. In den USA gibt es heute eine Firma, die 60-MW-Module produzieren will. Das Problem ist, dass bei so kleinen Anlagen der Skaleneffekt nicht zieht. Das Geschäftsmodell kann nur wirtschaftlich sein, wenn man zahlreiche Einheiten verkauft. Bislang existieren lediglich Vordesigns, die bei detailliertem Engineering dann oft erhebliche Unzulänglichkeiten aufweisen. Die Kostenschätzungen steigen und immer mehr Interessenten springen ab. Es gibt noch nicht mal einen Prototyp. Die SMR-Industrie hat vor allem Power-Point-Reaktoren anzubieten. Realistischere Einschätzungen halten eine serielle Produktion frühestens ab 2040 für möglich. Vor dem Hintergrund der Klimakrise haben wir diese Zeit schlicht nicht. Wir brauchen jetzt kosteneffiziente Lösungen. Und die können Energieeffizienz und Erneuerbare heute schon liefern.

Felix Maise

Mycle Schneider

Der unabhängige Energieexperte Mycle Schneider gibt zusammen mit einem internationalen Wissenschaftlerteam seit 2007 jährlich den World Nuclear Industry Status Report (WNISR) heraus.

www.worldnuclearreport.org

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