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Energie und Umwelt - Klimaschutz: jetzt oder nie!

Klimaschutz – jetzt oder nie!

Angesichts der Klimaerwärmung ist ein «Weiter wie bisher» ausgeschlossen. Denn mit jeder zusätzlichen Tonne CO2 schrumpft der Spielraum für künftige Entscheidungen. Die Schweiz muss jetzt Verantwortung übernehmen und mit dem Klimaschutz-Gesetz ihre Energiepolitik neu ausrichten.

Von Sabina Galbiati*
Illustrationen: Luca Schenardi*

17. April 2023, Zürich: In einem Café im Niederdorf sitzt Johanna Bleisch, 15 Jahre alt, Gymnasiastin, Klimaaktivistin, politisch aktiv seit bald drei Jahren. «Wenn ich abstimmen dürfte, würde ich das Klimaschutz-Gesetz auf jeden Fall annehmen», sagt sie, auch wenn klar sei, dass das Gesetz zu wenig weit gehe.

Bleisch, geboren 2008 in einem der reichsten Länder dieser Welt, gehört zur ersten Generation des 21. Jahrhunderts. Es ist das Jahrhundert, an dessen Ende ein «Weiter wie bisher» selbst mit den heutigen weltweiten Massnahmen eine globale Erwärmung um knapp 3 Grad Celsius gegenüber vorindustrieller Zeit bedeutet. Ein «Weiter wie bisher» funktioniert nicht mehr. Das zeigen die wissenschaftlichen Fakten. Das zeigt die Klimaerwärmung, die bereits jetzt weltweit zu häufigeren und stärkeren Dürren, Hitzewellen und Überschwemmungen führt, und dies bei einer durchschnittlichen Erderwärmung von «lediglich» 1,1 Grad.

Gleichentags, Schweiz: Über 200 Wissenschaftler:innen aus den Bereichen Klima, Energie, Technologie, Umwelt, Nachhaltigkeit und umweltbezogenen Politik-, Sozial- und Geisteswissenschaften sowie Ökonomie und Recht sprechen sich öffentlich für das Klimaschutz-Gesetz aus. «Der Klimawandel ist hier und jetzt, und die Gesellschaft ist heute schon stark von den Auswirkungen betroffen. Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind besorgt über diese Entwicklungen», schreiben sie in ihrer Stellungnahme. «Jede ausgestossene Tonne CO2 erhöht die Risiken für Klimaschäden, verkleinert den Spielraum für zukünftige Entscheide und trägt dazu bei, dass später mehr künstliche Senken nötig werden.» Sie untermauern die Dringlichkeit mit den anerkannten wissenschaftlichen Fakten. Nun mag man darüber streiten, ob sich Wissenschaftler:innen derart in politische Angelegenheiten einzumischen haben, währenddessen der Lobbyismus in Bundesbern nahezu unbehelligt seinen Lauf nimmt. Nur verschwinden dadurch weder die Fakten noch die Treibhausgase.

Das Dilemma mit dem akzeptierten Unrecht

2021, Schweiz: 45,2 Millionen Tonnen Treibhausgase haben wir allein im Inland ausgestossen, hauptsächlich in den Bereichen Verkehr, Industrie und Haushalte. Damit verfehlt die Schweiz das angestrebte Ziel deutlich, bis 2020 20 Prozent weniger Treibausgase gegenüber 1990 zu emittieren.

Wir importieren und verbrauchen jährlich fossile Energieträger im Wert von rund acht Milliarden Franken. Geld, das unter anderem zu autoritären Regimes fliesst und wegen der hohen Energiepreise 2022 sogar auf 13 Milliarden Franken stieg. Hinzu kommt der gigantische Fussabdruck des Schweizer Finanzplatzes. Im Report «Klimastandort Schweiz» von 2022 schätzt «McKinsey & Company», dass unser Finanzplatz durch Investitionen in Aktien, Unternehmensanleihen sowie durch die Vergabe von Krediten und Hypotheken jedes Jahr 700 bis 900 Millionen Tonnen Treibhausgasemissionen «in die Einflusssphäre der Schweiz bringt». Das entspricht 14- bis 18-mal unseren Innlandemissionen. Staatsanleihen sind hier noch gar nicht eingerechnet. Man könnte sagen: alles in allem das Resultat unseres «Weiter wie bisher».

Unser Dilemma beschreibt der Philosoph Christoph Rehmann-Sutter in seinem Artikel «Das Unrecht der Klimakrise» treffend: «Die Krise entsteht im Grossen und Ganzen – von Ausnahmen abgesehen – nicht durch Gesetzesübertretungen, sondern im Rahmen des Erlaubten». Er beschreibt diese spezielle Form des Unrechts als «Unrecht im Rahmen der geltenden Rechtsordnungen, im Rahmen des gesellschaftlich akzeptierten und weitgehend erwünschten Verhaltens.»

Grafik: Robbie Andrews (2019): based on Global Carbon Proiect & IPPC SR15

Der Klima- und Umweltethiker Ivo Wallimann-Helmer gehört zu den Wissenschaftlern, welche die Stellungnahme mitunterzeichnet haben. Er fügt einen ergänzenden Punkt an: «Wir leben in einem System, in dem niemand sagen kann, du bist schuld am Klimawandel. Aber gleichzeitig tragen wir durch unser Handeln permanent dazu bei.» Deshalb sei jede und jeder Einzelne in der Verantwortung, die Emissionen zu minimieren. «Allerdings braucht es dazu auch die Politik, respektive den gesetzlichen Rahmen, der das ermöglicht und unterstützt.»

Das Klimaschutz-Gesetz oder «Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit», wie es korrekt heisst, setzt mit dem Netto-Null-Ziel bis 2050 und einem definierten Absenkpfad für Treibhausgasemissionen diesen gesetzlichen Rahmen fest. Gleichzeitig zeigt eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften im Auftrag der SES, dass im Inland durch ein Netto-Null-Szenario 77 Milliarden Franken an Wertschöpfung und rund 50'000 Arbeitsplätze allein bis zum Jahr 2035 ermöglicht werden. Das Gesetz enthält zudem einen Hebel für eine «klimaverträgliche Ausrichtung der Finanzmittelflüsse» – obwohl einige Expert:innen hier durchaus für mehr Strenge plädieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt, betont Wallimann-Helmer, sei die Anwendung der Negativemissionstechnologien, die das Klimaschutz-Gesetz vorsehe, wie etwa die technische Abscheidung von CO2 aus der Atmosphäre und dessen Lagerung im Untergrund. «Die Wissenschaft zeigt klar, dass wir ohne diese Technologien die Ziele des Pariser Klimaabkommens nicht mehr erreichen.»

Die Folgen für die +2,4 Grad Schweiz

Hitzesommer 2022, Schweiz: Zahlreiche Bäuer:innen bringen ihr Vieh frühzeitig von der Alp herunter. Entweder fehlen Futter, Wasser oder beides. Tiere werden notgeschlachtet. In diesem Jahr verlieren die Gletscher 6 Prozent Volumen – mehr als je zuvor. Dieses Wasser wird früher oder später in den Bergdörfern, aber auch im Flachland fehlen. Die Übersterblichkeit unter anderem aufgrund der Hitze zeigt sich in den Statistiken deutlich. Bereits jetzt sterben in der Schweiz hitzebedingt jährlich im Durchschnitt 300 Menschen frühzeitig. Unser Alpenland ist stärker von der Klimaerwärmung betroffen als andere Länder: Bis heute ist die Durchschnittstemperatur um 2,4 Grad Celsius gegenüber vorindustrieller Zeit gestiegen. Dass das Klimaschutz-Gesetz Anpassungsmassnahmen zum Schutz vor den Folgen des Klimawandels vorsehe, sei vor diesem Hintergrund ein wichtiger Aspekt, sagt Wallimann-Helmer. «Aus ethischer Sicht hätten allerdings in dieser Hinsicht zwingend auch Unterstützungsmassnahmen für ärmere und vom Klimawandel stärker betroffene Staaten formuliert werden sollen.»

April 2023, Zürich: Im Café erzählt Johanna Bleisch von ihrem Alltag: «Ich verstehe alle, die einfach 15 Jahre alt sein wollen, ich wünsche mir oft, ich könnte das auch – einfach mal vergessen.» Bleisch sieht sich keineswegs als Opfer, sondern als Privilegierte in einem reichen Land. Aber sie schäme sich für dessen Klimapolitik, sagt sie. Täglich widmet sie zwei bis drei Stunden dem Klimastreik. «Ich kann zwar noch nicht abstimmen, aber für den gesellschaftlichen Wandel kann ich mich einsetzen.»

März 2023, Strassburg: Elisabeth Stern fordert am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ihr Recht auf Leben und Gesundheit ein. Sie gehört zum Verein der 2200 Schweizer Klimaseniorinnen. «Die Schweiz verletzt ihre Schutzpflicht uns gegenüber durch ihre ungenügende Klimapolitik», fasst Stern kurz und knapp zusammen. Die immer längeren und heftigeren Hitzewellen aufgrund der Klimaerwärmung würden ihr Grundrecht auf Leben und Freiheit einschränken. Seit nunmehr 40 Jahren kämpft die Ethnologin für mehr Klimaschutz und -gerechtigkeit. «Die jetzige Klimapolitik der Schweiz ist in jeder Hinsicht unzureichend, um die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Dieses Ziel ist jedoch entscheidend, wenn wir die Menschenrechte achten und wahren wollen», sagt sie. Was die 75-jährige genauso umtreibt, sind junge Menschen wie Johanna Bleisch. «Die Jugend von heute soll nicht denken müssen, dass sie die letzte Generation ist!» Das sei tragisch und ungerecht. «Wir stehen hier in der Verantwortung. » Der Klimaethiker Ivo Wallimann-Helmer formuliert es so: «Es ist unsere ethische Pflicht, künftigen Generationen mindestens ein angemessenes Leben zu ermöglichen, und das Klimaschutz-Gesetz ist eine Massnahme, diese Möglichkeit schaffen zu helfen.»

Die Verantwortung der Schweiz

Doch was ist angemessen? Einen Anhaltspunkt liefert Evelyne Schmid, Professorin für Völkerrecht an der Universität Lausanne: «Die Geschichte zeigt, dass zivilisatorische Errungenschaften wie etwa unser Rechtssystem und Menschenrechte oder Wirtschaftsstabilität nur innerhalb eines sehr schmalen Temperaturbandes möglich sind». Alles, was über +1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit liege, sei wegen der Umweltfolgen brandgefährlich. «Die Schweiz steht nicht nur gegenüber ihrer Jugend und kommenden Generationen in der Verantwortung, sondern auch gegenüber allen anderen Staaten, die das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet haben.» Denn die Weltgemeinschaft hat sich nicht nur das Ziel gesetzt, den globalen Temperaturanstieg auf möglichst 1,5 Grad zu beschränken. Die einzelnen Staaten haben sich auch verpflichtet, dies nach dem Gerechtigkeitsgrundsatz der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten zu tun. «Die Schweiz gehört zu den Ländern, die mehr Verantwortung übernehmen müssen, weil sie finanziell, technologisch und wissenschaftlich einen grösseren Beitrag leisten können», sagt Schmid. «In all diesen Bereichen ist die Schweiz leistungsstark. Gleichzeitig haben wir wegen unseres Finanz-, aber auch Rohstoffhandels, unseres Konsums und unserer historischen Emissionen eine grössere Verantwortung als ärmere Staaten.» Das Klimaschutz-Gesetz sei ein wichtiger Schritt, um dem immerhin näher zu kommen.

Zeitfenster schliesst sich rapide

März 2023, Interlaken: Jene Dringlichkeit, welche die Wissenschaftler: innen in ihrer Stellungnahme betonen, schreibt der Weltklimarat an seiner Konferenz im Kongresszentrum mit einfachen Worten nieder: «Das Zeitfenster, in dem eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle gesichert werden kann, schliesst sich rapide.» Das lässt sich freilich weiterhin verleugnen, verdrängen oder zerreden. Damit ändert sich aber nichts an der Tatsache, dass unsere Treibhausgasemissionen so rasch wie möglich sinken müssen. Fakt ist, das Klimaschutz-Gesetz wird noch nicht reichen, um die Pariser Ziele zu erreichen. Doch es ist ein erster wichtiger Schritt und ein Grundsatzentscheid, der die Schweiz aus ihrem klimapolitischen Stillstand hebt.

18. Juni 2023, Schweiz: Das Resultat der Abstimmung über das Klimaschutz-Gesetz ist vor diesem Hintergrund nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit und Verantwortung. Mit unserem heutigen Wissensstand und den zur Verfügung stehenden Technologien ist ein JA auch die einzig vernünftige Antwort.

 

*Die Autorin

Sabina Galbiati

Sabina Galbiati

Freischaffende Journalistin, Autorin und SEO-Expertin. 2022 erschien ihr Buch «101 Antworten für deinen nachhaltigen Alltag».

www.sabinagalbiati.ch

 

*Illustration

Luca Schenardi

Luca Schenardi

Luca Schenardi ist ein in der Schweiz lebender Illustrator und Künstler. Er illustriert u.a. für das New York Times Magazin, Bloomberg Businessweek, Süddeutsche Zeitung Magazin und Die Zeit.

www.lucaschenardi.ch

@lucaschenardi

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