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Energie und Umwelt - Die Grenzen der Vorstellungskraft

Die Grenzen der Vorstellungskraft

Der Mensch hat einen Vorstellungshorizont von etwa 100 Jahren, ausrangierte Brennstäbe gefährden die Biosphäre jedoch für eine Million Jahre. Wie gehen wir mit dieser Hypothek für die nachfolgenden Zehntausenden Generationen um?

Von Esther Banz*
Bilder: Marcel Rickli*

Vor fünf Jahren entdeckten Archäolog:innen in der marokkanischen Wüste, rund 160 Kilometer südlich von Fès, fossile Knochen von Homo Sapiens. Der Fund in der Jebel-Irhoud-Höhle war eine Sensation. Denn die Knochen und Steinwerkzeuge sind rund 300 000 Jahre alt. Bis zu diesem Zeitpunkt dachte man – aufgrund früherer Ausgrabungen in Äthiopien –, die Geschichte der Menschheit reiche ein bisschen weniger weit zurück (konkret minus 100 000 Jahre).

300 000 Jahre ist auch die geschätzte Dauer, während der hochradioaktive Abfälle aus Kernkraftwerken eine grosse Gefahr für Mensch und Umwelt bedeuten, ja für die ganze Biosphäre. Denn so lange dauert es, bis die Radioaktivität der Abfälle auf das Niveau natürlich vorkommender Stoffe abgeklungen ist. Einige Spaltprodukte bleiben aber noch viel länger gefährlich, weswegen das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI sogar die sichere Verwahrung für eine Million Jahre verlangt.

Jenseits der Vorstellungskraft

In geologischen Zeiträumen gerechnet, ist eine Jahrmillion ein Bruchteil der gesamten Erdgeschichte – auf den Menschen bezogen bedeutet sie aber mehr als dreimal die Dauer seiner Existenz. Was in diesen Jahren punkto Atommülllagerung entschieden wird, ist also quasi bis in alle Ewigkeit relevant. Da fragt sich: Wie weit in die Zukunft kann der Mensch eigentlich eine Vorstellung vom Leben auf der Erde haben?

Atomblume: Verschiedentlich haben sich Semiotiker und Energiebehörden mit der zentralen Frage des Erhalts von Daten, Wissen und Erinnerungen über Generationen befasst – mit teils pragmatischen, teils fantastisch anmutenden Lösungen. So schlug der polnische Philosoph und Science-Fiction-Autor Stanisław Lem vor, eine «Atomblume» zu züchten, die nur dann blüht, wenn Radioaktivität aus einem Endlager austritt. (Lem, 1990)

Lutz Wingert ist Philosophieprofessor an der ETH Zürich. Menschliches Leben könnten wir uns ganzheitlich bis in eine zeitliche Entfernung von etwa 100 Jahren vorstellen, sagt er. Denn das entspreche der Spanne eines sehr langen Menschenlebens.

100 Jahre in der Zukunft – das ist ziemlich genau dann, wenn die Nagra das Tiefenlager zu verschliessen plant: ungefähr im Jahr 2125 – nach einer rund 15-jährigen Einlagerungsphase und einer 50-jährigen Beobachtungsphase. Der Mensch kann sich also ein Bild davon machen, wie die Welt und die Gesellschaft aussehen werden, wenn hinter der ewigen Gefahr die letzte massive Barriere verschlossen wird? Lutz Wingert relativiert seine Aussage sogleich wieder: «Wir können uns wider bisheriges Erwarten immer weniger bestimmte ökologische Zustände unseres Planeten in der Zukunft vorstellen.» Er meine damit ökologisch beschreibbare Zustände. Denn mit der Zerstörung der Umwelt verenge sich unser Vorstellungshorizont.

Auch für den Nachhaltigkeitsforscher Rony Emmenegger von der Universität Basel ist klar, dass «nichts ungewisser ist als die Zukunft.» Dennoch sei es in Anbetracht anthropozäner Problemstellungen unerlässlich, in die Zukunft zu denken. Laut des Geisteswissenschaftlers, der sich eingehend mit den Atomabfällen beschäftigt, sei die Frage also eher: «Auf welcher Wissensgrundlage können wir im Kontext der Ungewissheit Entscheidungen fällen, die die Zukunft betreffen?» Die Wissenschaft habe viel Übung darin, in die Zukunft zu blicken, und die Gesellschaft müsse lernen, sich die wissenschaftliche Expertise kritisch zunutze zu machen.

ONKALO II: Auf der Insel Olkiluoto vor der Westküste Finnlands wird derzeit das weltweit erste geologische Tiefenlager für hochradioaktive Abfälle gebaut. ONKALO, was soviel wie Hohlraum oder Höhle auf Finnisch bedeutet, soll 2020 die Betriebserlaubnis erhalten und in den kommenden Jahren mit der Einlagerung beginnen. In einer Tiefe von 400–450 m werden die verbrauchten Brennelemente aus den umliegenden Reaktoren Olkiluoto 1–3 und jene des Kernkraftwerks Loviisa eingelagert. In Kupferkanister verpackt und in Granit eingebettet, sollen die Abfälle für die nächsten 100’000 Jahre sicher verwahrt werden. Das unterirdische Tunnelsystem mit einer Länge von ca. 60–70 km hat eine Gesamtkapazität von 6500 t, was rund 3250 Kanistern entspricht.

In der Schweiz sollen die hochradioaktiven Abfälle in mindestens 500 Metern Tiefe in unbewegtem Opalinuston eingelagert werden, eingeschlossen in massiven Stahlbehältern und durch mehrfache Barrieren geschützt. Dazu, wie lange die Behälter rundum dicht sein werden, gibt es keine Erfahrungswerte. Und trotz Lagerung in der Tiefe bestehen Risiken, etwa durch Oberflächenerosion infolge eiszeitlicher Vergletscherung. In rund 100 000 Jahren dürfte es etwa wieder so weit sein, dass sich Gletscher in Tiefentäler einschürfen, sagen Fachleute. 100 000 Jahre. Sie zurück gerechnet, lebten auf der Erde noch sechs verschiedene Menschenarten gleichzeitig – vor rund 50 000 gab es dann nur noch den Homo Sapiens. Vor 10 000 Jahren waren die letzten Eiszeiten vorbei. Vor 1 000 Jahren herrschte eine Adelsschicht. Vor 500 Jahren schrieb Zwingli sein erstes reformatorisches Werk.

Die Erde: Rohstofflager und Müllhalde?

In seiner ganzen Geschichte hat der Mensch Abfall produziert. Das weiss der Geologe und Sozialwissenschaftler Marcos Buser. Er erwähnt Ausgrabungen in der Romandie. Vor 15 000 Jahren jagten dort Menschen Rentiere und wilde Pferde, über dem Feuer bereiteten sie ihre Beute zu; die abgenagten Knochen liessen sie einfach liegen. Einige von ihnen überdauerten die Zeit und sind heute im archäologischen Park Laténium an den Ufern des Neuenburgersees zu besichtigen. Unzimperlich im Wegwerfen waren auch die kultivierten Griech:innen – so machte sich Seneca später in seinem Werk «Naturales quaestiones» etwa zu grossflächigen Verschmutzungen beim Grundwasser Gedanken. Aber es gibt einen grossen Unterschied zwischen früherem menschlichem Abfall und dem der letzten 150 Jahre: Bis zum Beginn des Industriezeitalters waren es «natürliche» Produkte, die sich bald von selber wieder zersetzten. Das änderte sich schlagartig, als der Mensch anfing, chemische Produkte zu produzieren – und sich ihrer so achtlos «entledigte» wie zuvor; die Konsequenzen kennt der Altlasten-Experte gut. Er hat mehrere Jahrzehnte seines Lebens damit zugebracht, vor den Folgen von chemotoxischen Abfällen für die Umwelt zu warnen. Er hat gesehen, wie Giftfässer in alten Bergwerken abgestellt wurden– aus den Augen, aus dem Sinn. Marcos Buser kennt auch die Beteuerungen zu «todsicher dichten Behältern» – und sagt: «Meine Erfahrungen mit Deponien lehren mich, dass kein Fass für immer hält. Spätestens in 10 000 Jahren, aber ich schätze deutlich früher, werden auch die radioaktiven Stoffe wieder an die Umgebung abgegeben.»

Praktische Erfahrungen mit radioaktiven Abfällen gibt es in den USA und in Deutschland – wenn auch schlechte. Ein Störfall im Waste Isolation Pilot Plant (WIPP) in New Mexico, wo Abfälle aus dem militärischen Atomprogramm gelagert werden, machte deutlich, dass der Betrieb einer solchen Anlage reale Risiken für Mensch und Umwelt birgt. Die Aufräumarbeiten allein kosteten eine halbe Milliarde Dollar. Im niedersächsischen Asse muss nach gravierenden Zwischenfällen ein Lager für schwach- und mittelaktive Abfälle komplett geräumt und stillgelegt werden. Kostenpunkt: vier Milliarden Euro. Mindestens.

Multibarrierensystem: Dieses Model der Tschechischen Agentur für nukleare Abfallentsorgung (Surao) in Prag demonstriert, wie ein Mehrfachbarrierensystem atomare Abfälle vor dem Austreten hindern soll. Die erste Barriere bei der Endlagerung von hochativen Brennelementen bildet ein aus Stahl (oder Kupfer) bestehender Behälter mit einer Wandstärke von rund 15 cm. Er vermag radioaktives Material nach heutiger Erkenntnis bis zu 10‘000 Jahren einzuschliessen, bevor sich der Behälter durch die Korrosion komplett zersetzt hat. Danach tritt die zweite Barriere in Kraft. Sie besteht aus einer Bentonitverfüllung, ein dem Katzenstreu ähnliches Granulat, das Feuchtigkeit aufnehmen und speichern kann. Die dritte und letzte Barriere bildet das Wirtgestein.

Weltweit ist bis dato noch kein einziges Tiefenlager für hochaktive nukleare Abfälle in Betrieb. Finnland wird voraussichtlich das erste Land sein, das sein strahlendes Erbe in Kupferbehältern unter die Erde bringt, in Olkiluoto. In den nächsten Jahren soll das Tiefenlager fertig gebaut sein. Unglaublich, aber wahr: Die ältesten AKW sind seit mehr als 50 Jahren in Betrieb – und der ganze hochradioaktive Abfall, den sie produzieren, lagert bisher in Provisorien, mehrheitlich an der Oberfläche. Im Dokumentarfilm «Die Reise zum sichersten Ort der Erde» von Edgar Hagen erzählt ein englischer ehemaliger Topmanager der Atomindustrie, wie man sich in den Anfangszeiten der Kernenergie auf die Stromerzeugung konzentriert und das Abfallproblem ganz einfach grosszügig ignoriert hatte: Man sei damals der Meinung gewesen, das Problem lasse sich dann schon irgendwie überwinden.

Den Philosophen Lutz Wingert überraschen die Ignoranz und die Verantwortungslosigkeit nicht: «Es ist eine in vielen Kulturen tiefsitzende kulturelle Einstellung des Menschen, dass er die Erde als Rohstofflager zu eigenen Zwecken ausbeuten und sie gleichzeitig als Müllhalde missbrauchen darf. Der radioaktive Abfall ist da sozusagen ‹nur› eines von vielen Beispielen – man denke an die Ozeane als Kloake für Plastik oder für Phosphor und Stickstoff aus der Intensivlandwirtschaft.»

Die Umweltzerstörung sei als Prinzip in unsere Art des Wirtschaftens eingebaut, sagt Lutz Wingert. Man schiebe die negativen Folgen von Produktion und Konsum in Form von Kosten für die Gesundheit und die menschliche Umwelt sowie für die Lebensräume der Tiere weg. «Externalisierung» heisst der Fachbegriff dazu.

Es braucht weitere Debatten

Vor 20 Jahren hat die Nagra den damals längst überfälligen Nachweis erbracht, dass man imstande sei, die hochradioaktiven Abfälle im Opalinus-Tongestein sicher zu verwahren. Für die Fachleute ist es die beste Umgebung, die für die langfristige Lagerung radioaktiver Abfälle bisher weltweit gefunden wurde. Auch für den Geologen Marcos Buser ist es wahrscheinlich das bis dato bestmögliche Gestein. Aber, sagt er: «Ein Endlager in 500 Metern Tiefe, wie die Nagra es jetzt durchsetzen will, ist trotzdem nicht sicher.»

Es sind verschiedene Gründe, die den Geologen, der lange auch aktiv an Lösungen zur Tiefenlagerung mitarbeitete, seine Meinung ändern liessen. Sie haben nicht in erster Linie mit dem Gestein, sondern mit den Menschen zu tun. Und vor allem mit der technischen Entwicklung. «Die Menschen werden darauf zugreifen können und die Gefahr ist gross, dass daraus Bomben hergestellt werden. Es braucht ein Umdenken», sagt Buser. Eine Möglichkeit sei, das hochaktiv strahlende Material in eine schwer lösliche Form zu bringen, «vielleicht in neuer Form zu verglasen, oder in einem synthetischen Gestein zu fixieren. Auf jeden Fall muss es für zukünftige Generationen sehr, sehr teuer sein, je an das Material zu gelangen.» Wichtig ist ihm, dass jetzt nichts überstürzt wird: «Die Technik wird sich entwickeln und es könnte schon in absehbarer Zeit Möglichkeiten geben, die radioaktiven Abfälle und ihre Energie weiter zu nutzen oder eben anders zu behandeln und zu verfestigen. Je rascher heute gehandelt wird, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass unausgereifte Lösungen umgesetzt werden und weitere atomare Altlasten entstehen.»

Strahlenkatze: Wie kann man über einen immens langen Zeitraum sicherstellen, dass die Menschen der Zukunft die Erinnerung an ein Endlager bewahren? Die französische Autorin Françoise Bastide und der italienische Semiotiker Paolo Fabbri schlugen 1984 vor, Katzen genetisch zu modifizieren. Um radioaktive Strahlung für den Menschen wahrnehmbar zu machen, empfohlen sie die Züchtung von Tieren, die in Kontakt mit einem leckenden Endlager mit einer Verfärbung der Haut reagieren. Die Rolle dieser Tierart als Strahlendetektor sollte durch die Einführung eines geeigneten Namens – zum Beispiel Strahlenkatze – sowie durch Sprichwörter und Mythen in der kulturellen Tradition verankert werden.

Busers Forderungen werden in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Rony Emmenegger ordnet ein: «Heute ist es oft so, dass alternative Konzepte und Ansätze als Kritik an der Tiefenlagerung verstanden werden. Das muss und darf nicht so sein. Einerseits wollen wir eine Lösung und müssen, in Anbetracht der Komplexität des Unterfangens, einen Ansatz wie die geologische Tiefenlagerung in Angriff nehmen », so Emmenegger. «Anderseits sollten wir auch die kritische Auseinandersetzung mit alternativen Ansätzen zulassen, um Handlungsoptionen offenzulassen oder zu eröffnen. Dabei denke ich, dass gerade eine junge Generation sich breit mit der Thematik auseinandersetzen können muss. Nur so kommen wir zu einer Lösung, die auch von der nächsten Generation getragen werden kann.» Denn der Mensch bleibe in der Verantwortung, selbst wenn die Abfälle tief im geologischen Untergrund eingeschlossen sind. Das beinhalte auch, das Wissen an die nächsten Generationen weiterzugeben. Auch der Nachhaltigkeitsforscher anerkennt, dass es in künftigen Jahrhunderten oder Jahrtausenden zu Nutzungskonflikten hinsichtlich des Untergrunds kommen könnte: Was, wenn eine dereinstige Generation sich entscheidet, die Abfälle trotz Warnungen anzubohren oder auszuheben? Das liege dann jenseits unserer Kontrolle, sagt Rony Emmenegger, «was wir heute aber tun können, ist, einen Beitrag zu einer zukünftigen Wissens- und Erfahrungsgrundlage zu leisten. So gut wie möglich!»

Heute hat der Mensch die gigantische Klimakrise zu bewältigen, die er selber verursacht hat. Vielleicht kann er dabei sogar von der kritischen Auseinandersetzung mit der Atomenergie und der Abfallproblematik lernen, sagt Rony Emmenegger verhalten optimistisch. Nämlich dann, «wenn die Frage künftig nicht mehr lautet, wie einem Problem technisch zu begegnen ist, sondern welche Ursachen ihm zugrunde liegen.»

*Die Autorin

Esther Banz

Esther Banz

Esther Banz ist freischaffende Journalistin in Zürich.

www.buerobanz.ch

*Die Bilder

Bilder: Marcel Rickli

Marcel Rickli

Die Bilder zum Artikel stammen vom Zürcher Fotografen und Künstler Marcel Rickli. Seit 2018 beschäftigt er sich in einem fortlaufenden visuellen Forschungsprozess mit dem Thema der Endlagerung von radioaktiven Abfällen. Die hier gezeigten Bilder stammen aus der Arbeit AEON (2018–ONGOING).
marcelrickli.com

 

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