energiestiftung.ch energiestiftung.ch Magazin 2024-02-Energie&Umwelt → Fokus: Das Stromgesetz: die Vorlage konkret

Das Stromgesetz konkret

Am 9. Juni stimmt die Schweiz über das Stromgesetz ab. Auch dank dem Engagement der SES konnten im Parlament wesentliche Verbesserungen zum ursprünglichen Vorschlag erzielt und Angriffe auf den Umweltschutz und die Biodiversität abgewehrt werden. Die Abstimmungskampagne der Befürworter:innen und der Gegner:innen bleiben naturgemäss an der Oberfläche. Wir zeigen konkret am Gesetzestext, um was es geht.

Von Felix Nipkow
Fotos von Thomas Egli

Im Stromgesetz, das eine Revision des Energie-Gesetzes EnG und des Stromversorgungs-Gesetzes StromVG beinhaltet, steckt viel Power drin!

Mehr erneuerbarer Strom

Das Hauptziel ist der Ausbau der erneuerbaren Energien in der Schweiz. Das wird schon in diesem Artikel klar, wo neu verbindliche Ziele statt schwammiger Richtwerte definiert werden:

Art. 2 EnG – Ziele für den Ausbau der Produktion von Elektrizität aus erneuerbaren Energien
¹ Die Produktion von Elektrizität aus erneuerbaren Energien, ausgenommen aus Wasserkraft, hat im Jahr 2035 mindestens 35’000 GWh und im Jahr 2050 mindestens 45’000 GWh zu betragen.

Hinzu kommen rund 38’000 Gigawattstunden (GWh) aus Wasserkraft, zum überwiegenden Teil heute schon gebaut. Zusammen macht das weniger als der heutige Gesamtenergieverbrauch der Schweiz (inkl. Erdölprodukte und Gas rund 213’000 GWh) aus. Trotzdem reicht das, um den Verbrauch in Zukunft mit einheimischer Energie zu decken, dank höherer Effizienz von Elektrizität im Vergleich zu Benzin, Heizöl und Gas. Mit einer Kilowattstunde Energie kann ein Elektroauto vier bis fünf Mal weiter fahren als ein Benzinauto. Vergleichbare Effizienzgewinne sind im Vergleich von fossilen Heizungen zu Wärmepumpen zu beobachten.

Art. 45a EnG – Pflicht zur Nutzung der Sonnenenergie bei Gebäuden
¹ Beim Bau neuer Gebäude mit einer anrechenbaren Gebäudefläche von mehr als 300 m2 ist auf den Dächern oder an den Fassaden eine Solaranlage […] zu erstellen. Die Kantone können diese Pflicht auch bei Gebäuden mit einer anrechenbaren Gebäudefläche von 300 m2 oder weniger vorsehen.

Klar, wir hätten lieber, dass die Solarpflicht nicht nur für grosse Gebäude gilt. Dennoch – ein guter Anfang mit Ausbaupotenzial. Die Kantone dürfen die Solarpflicht explizit auch bei kleineren Gebäuden einführen.

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«Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es keine Alternative zu einem massiven Ausbau der einheimischen Stromproduktion aus erneuerbaren Energien gibt.»

Christine Bulliard-Marbach, Nationalrätin Die Mitte
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Strom produzieren lohnt sich

Art. 15 EnG – Abnahme- und Vergütungspflicht
¹ Netzbetreiber haben die ihnen angebotene Elektrizität […] abzunehmen und […] zu einem schweizweit harmonisierten Preis zu vergüten.
¹bis Die Vergütung für Elektrizität aus erneuerbaren Energien richtet sich nach dem […] Marktpreis […]. Der Bundesrat legt für Anlagen bis zu einer Leistung von 150 kW Minimalvergütungen fest. Diese orientieren sich an der Amortisation von Referenzanlagen über ihre Lebensdauer.

Heute ist der Preis, den man für selbst produzierten und eingespeisten Strom erhält, abhängig davon, wo man wohnt. Die Vergütung liegt je nach Elektrizitätswerk (EW) zwischen 3,7 und 25 Rappen pro Kilowattstunde und kann sich jederzeit ändern. Neu wird die Vergütung für Anlagen bis ungefähr 700 Quadratmeter Panelfläche vereinheitlicht. Es wird grundsätzlich der Marktpreis vergütet – mit einer Absicherung gegen unten. EW dürfen weiterhin auch höhere Vergütungen anbieten. Investitionssicherheit – für Hausbesitzer:innen und andere Investor: innen ein wichtiges Argument.

Art. 29a EnG – Teilnahme am System der gleitenden Marktprämie
¹ Für die Erstellung neuer Anlagen und die erhebliche Erweiterung oder Erneuerung von Anlagen zur Erzeugung von Elektrizität aus erneuerbaren Energien kann […] eine gleitende Marktprämie in Anspruch genommen werden […].

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«Wir brauchen dieses Gesetz dringend, damit der Zubau erneuerbarer Energien ohne weitere Verzögerungen endlich Fahrt aufnehmen kann.»

Susanne Vincenz-Stauffacher, Nationalrätin FDP
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Wer heute eine grosse Photovoltaik-, Wind- oder Wasserkraft-Anlage erstellt, erhält einen einmaligen Investitionsbeitrag. Der Rest muss über den Stromverkauf amortisiert werden. Sinkt der Strompreis, schwindet die Rendite. Neu haben die Betreiber:innen die Wahl zwischen dem Investitionsbeitrag und einer «gleitenden Marktprämie ». Diese garantiert eine bestimmte Vergütung pro Kilowattstunde für eingespeisten Strom. Bei tiefen Strompreisen wird die Marktprämie über den Netzzuschlagfonds finanziert. Bei hohen Strompreisen zahlen die Betreiber: innen der Anlagen die Differenz zurück. So wird das Risiko von Preisschwankungen minimiert. Das macht Investitionen in erneuerbare Energie- Anlagen attraktiver.

Endlich Strom-Effizienz!

Art. 9abis StromVG – Versorgungssicherheit durch Energieeffizienz ¹Zur Stärkung der Versorgungssicherheit im Winter sind Massnahmen der Energieeffizienz umzusetzen, die bis spätestens 2035 zu einer Reduktion des Stromverbrauchs um 2 TWh führen.

Stromeffizienz kann deutlich mehr als 2 TWh (2000 GWh) einsparen. Würde man den Hebel hier ernsthafter ansetzen, könnten wir rund das Zehnfache des Ziels erreichen und rund ein Drittel des heutigen Stromverbrauchs einsparen. Dennoch: Erstmals steht überhaupt ein Effizienz-Ziel im Gesetz. Der Bundesrat wird jährlich festlegen, welche Vorgaben die EW erfüllen und belegen müssen. Die EW können die «Nachweise von Massnahmen zur Effizienzsteigerung » untereinander handeln. Das wird zu einem Wettbewerb führen, bei dem alle gewinnen: EW, Verbraucher:innen und die Umwelt (hier mehr dazu).


Dezentral ist Trumpf

Art. 17d StromVG – Bildung von lokalen Elektrizitätsgemeinschaften
¹ Endverbraucher, Erzeuger von Elektrizität aus erneuerbaren Energien und Speicherbetreiber können sich zu einer lokalen Elektrizitätsgemeinschaft zusammenschliessen und die selbst erzeugte Elektrizität innerhalb dieser Gemeinschaft absetzen.

Das Stromgesetz führt lokale Verbünde ein, innerhalb derer mit Strom gehandelt werden kann. Das schafft Anreize, die Produktion und den Verbrauch kleinräumig aufeinander abzustimmen. So muss weniger Strom mit übergeordneten Netzen ausgetauscht werden. Das ist effizienter als Pumpspeicherkraftwerke in den Alpen und reduziert den Bedarf an Hochspannungsleitungen. Gleichzeitig stärkt es die Redundanz des Stromsystems.

Volle Wasserkraft voran

Umweltverbände und die Strombranche haben sich auf eine Reihe von Wasserkraftwerken geeinigt, für deren Ausbau oder Erstellung erleichterte Bedingungen gelten. Einsprachen gegen Baubewilligungen, zum Beispiel bei Verstössen gegen das Umweltrecht, bleiben aber möglich. Ausserdem sind zusätzliche Ausgleichsmassnahmen zum Schutz von Biodiversität und Landschaft vorgesehen, die die Betreiber der Wasserkraftwerke finanzieren.

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«Dieser Kompromiss soll eben gerade eine ausufernde Überbauung in sensiblen Gebieten wie Biotopen verhindern.»

Albert Rösti, Bundesrat

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Und die Umwelt?

Das Stromgesetz bedroht die Biodiversität nicht: Über 80 Prozent des Ausbaus erneuerbarer Energien wird auf Infrastruktur, der Rest in ökologisch unbedenklichen Gebieten stattfinden. Die Solarenergie wird hauptsächlich auf Hausdächern, an Fassaden, Staumauern, Lärmschutzwänden und anderen verbauten Flächen erstellt werden. Streng geschützte Gebiete sind tabu. Es gibt keinen automatischen Vorrang für erneuerbare Energien gegenüber Naturschutzinteressen. Die Kantone sind weiterhin in der Pflicht, geeignete Gebiete im Richtplan festzulegen. Neu müssen sie dabei explizit Umweltschutzinteressen berücksichtigen.

Die grösste Bedrohung für die Biodiversität ist die Klimaerwärmung. Mit genügend erneuerbaren Energien kann die Schweiz viel CO2 aus dem Ölund Gasverbrauch einsparen und so effektiv die Umwelt schützen. Das Referendumskomitee macht Angst mit der «Zerstörung unserer Natur und unserer Landschaften». Wichtig ist, nochmals zu betonen, dass die namhaften Umwelt- und Landschaftsschutzverbände das Gesetz befürworten. Ein «Ja» empfehlen neben der SES unter anderem WWF, Stiftung Landschaftsschutz, Pro Natura, Greenpeace, VCS, Casafair, Klimastreik, Verein Klimaschutz, BirdLife Schweiz und Aqua Viva.

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«Die Vorlage ist naturverträglich geblieben […]. Wir brauchen eine naturverträgliche Energiewende. […] Das ist auch der Grund, weshalb die grüne Fraktion diese Vorlage mit grosser Freude geschlossen unterstützt.»

Bastien Girod, Nationalrat Grüne

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Lieber die Taube in der Hand als der Spatz auf dem Dach

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden im Energiebereich Gesetze erlassen, die teilweise zu Recht kritisch diskutiert wurden. Der sogenannte Solarexpress und der Windexpress sind aber nicht Teil des Stromgesetzes, sondern werden durch letzteres abgelöst.

Auch Atomstrom kommt im Gesetz nicht vor. Mit der im Februar eingereichten Atominitiative wollen die Freunde der Atomtechnologie neue AKW ermöglichen. Diese kämen allerdings zu spät und wären zu teuer. Mit dem Stromgesetz ziehen wir diesem Anliegen von Anfang an den Stecker. Das Problem des Flugverkehrs wird mit dem Stromgesetz nicht gelöst. Und in der Landwirtschaft werden auch mit elektrischen Traktoren noch Treibhausgase entstehen. Das sind Herausforderungen, die parallel dazu angepackt werden müssen – das Stromgesetz ist ein wichtiger erster Schritt und sorgt dafür, dass der Löwenanteil der fossilen mit erneuerbarer Energie ersetzt werden kann.

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«[Mit dem Stromgesetz] schaffen wir die Grundlage dafür, dass die Schweiz unabhängiger wird und nicht bis in alle Zukunft wie heute 8 Milliarden Franken pro Jahr für Öl und Gas ins Ausland schicken muss.»

Nadine Masshardt, Nationalrätin SP

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Bei einem Nein ginge wertvolle Zeit verloren. Mit dem 2023 gewählten Parlament und Energieminister Albert Rösti (SVP) stehen die Chancen für ein neues Gesetz, das Umwelt- und Landschaftsschutzanliegen berücksichtigt, nicht gut. Mit dem Stromgesetz haben wir eine Taube in der Hand, die wir besser nicht gegen den Spatzen auf dem Dach tauschen.

Und das alles gratis?

Der beschleunigte Ausbau der Stromproduktion wird ohne neue Abgaben finanziert. Der Netzzuschlag liegt seit 2018 bei 2,3 Rappen pro Kilowattstunde und bleibt so. Erneuerbare Energien sind längst billiger als fossile Energien und Atomstrom. Der Preis fossiler Energie ist stark vom Weltgeschehen abhängig, wie vergangene Krisen gezeigt haben. Der Ausbau erneuerbarer Energien wird die Energiekosten nachhaltig entlasten und stabilisieren.

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« Für die Verbraucherinnen und Verbraucher entstehen also keine neuen Kosten aus dieser Vorlage.»

Albert Rösti, Bundesrat

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Die Kurzfassung

Wenn Ihnen das zu viel Text war – oder in der Sprache der sozialen Medien: «tldr» (too long, didn’t read):

Stimmen Sie JA zum Stromgesetz. Für sauberen Strom im Einklang mit Klima und Natur.

Felix Nipkow

Felix Nipkow

Fachexperte für erneuerbare Energien und ehemaliger SES-Mitarbeiter

 

Fotografien

Thomas Egli, thomasegli.net


Zitate

Die Zitate in diesem Artikel stammen aus der Nationalratsdebatte und aus Bundesrat Röstis Medienkonferenz zum Stromgesetz.

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